Der Film ist die Langzeitdokumentation über ein Haus und dessen Bewohner in Berlin- Prenzlauer Berg, vor, während und nach der Sanierung. Die Dreharbeiten beginnen im März 2005, kurz nachdem der neue Eigentümer – eine Immobilien-gesellschaft aus dem Westen der Republik – das Vorhaben den Hausbewohnern (Mietern) schriftlich ankündigt, und enden 2008, bei Einzug der neuen Mieter. In einer Zeitspanne von fast drei Jahren hat nicht nur das hundertjährige, zuvor noch nie sanierte Haus radikale Veränderungen erfahren.
Berlin Prenzlauer Berg: als Arbeiterviertel konzipiert, in Windeseile hochgezogen, im 2. Weltkrieg auf wundersame Weise durch Bomben wenig zerstört. Zu DDR – Zeiten galten die Häuser als Relikte der Bourgeoisie, die zu bekämpfen war. Abrisspläne, Vernachlässigung, eine Wohnpolitik, die sich mehr und mehr auf Plattenbauten in den Randbezirken konzentrierte und nicht auf die teure Instandsetzung des vorhandenen Bestandes.
Viele Mieter die ausziehen, Leerstand – das hat neue Menschen in dem Prenzlauer Berg gebracht: Intellektuelle, Künstler, Unangepasste. Die ersten Wohnungsbesetzungen fanden weit vor dem Mauerfall statt und haben sich bis spät in die Neunziger Jahre fortgesetzt. Aus Mangel an Wohnraum, der auch in der DDR herrschte, entwickelten sich Möglichkeiten eines kreativen, alternativen und selbstbestimmten Wohnens. Im Gegensatz zu den Hausbesetzungen im Westteil der Republik, die von politischem Protest und Infragestellung von Eigentumsverhältnissen geprägt waren, entziehen sich die Vorläufer aus dem Prenzlauer Berg dem Diktat von Norm und Kontrolle.
Lychenerstrasse 64 und die Wohnbiographien ihrer Bewohner ist ein repräsentatives Beispiel dieser Entwicklung. Das vierstöckige Haus, eine typische Gründerzeitimmobilie (Baujahr 1903) bestehend aus Vorderhaus, Hinterhaus, Seitenflügel und Hof, ist in marodem Zustand und hat bis 2006 noch nie eine Sanierung erfahren. Einige der 28 Wohneinheiten sind unbewohnbar, andere sind im Laufe der Zeit (durch Generationen von Mietern, nicht etwa durch einen Eigentümer, der ohnehin bis 2005 nicht eindeutig juristisch feststand) auf unter-schiedlichste Art und in unterschiedlichem Umfang hergerichtet worden.
Der Dokumentarfilm zeichnet in dieser Umbruchsphase die Arbeiten am Haus auf, begleitet alle, die diesen Prozess der räumlichen und sozialen Transformation mitgestalten, dokumentiert Verhandlungen, Entwicklungen und Stimmungsschwankungen einer Hausgemeinschaft, die sich mehr und mehr zusammenfindet. Protest, Abschiedsstimmung, Auszüge, Umzüge in neue Wohnungen, neues Leben. Im Alltäglichen zeigt sich eine Dramatik, die einen weiter reichenden Kontext schafft: historisch- politische, stadtplanerische, psychosoziale und nicht zuletzt philosophische Aspekte werden sichtbar.
Mit der Bedrohung des eigenen Wohnraums setzt bei den Protagonisten ein Bewusstwerden über das Wohnen als solches ein. Für fast alle bedeutet der Auszug nicht nur einen räumlichen Wechsel, sondern einen aufgezwungenen neuen Lebensstil, einen Lebenseinschnitt. Das kollektive Schicksal eines mehr oder weniger freundlichen Rausschmisses lässt die Hausgemeinschaft zusammenwachsen. Waren die Mieter zuvor in ihren Wohnungen vereinzelt, erblühen in der prekären Situation solidarische Strukturen, die eine Aufhebung der Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit bewirken: Kommunikation statt Isolation. In dieser Konstellation des Provisorischen entsteht ein Freiraum, der utopische Aspekte eröffnet. Der „Untergang“ des Hauses setzt ungeahnte Energien frei. Das neue Lebensgefühl gipfelt in einem großen Hausfest, bei dem alle Wohnungen offen stehen und bei dem hunderte von Leuten mit feiern. Der krönende Abschluss eines Lebensabschnittes, der zu Ende geht: nach und nach werden sämtliche Mieter das Haus verlassen, und keiner von ihnen zurückkehren.
Lychener 64: ein Film über das Wohnen und das Zuhause, über Berlin und Prenzlauer Berg, über die DDR und die BRD, über Stadterneuerung und Gentrifizierung, Geld und Ideal, Inhalt und Fassade, Wahrheit und Betrug.
Deutschland 2010, Länge 84 Minuten, Autor und Kodirektion: Fabio Dondero – in Zusammenarbeit mit Rundfunk Berlin Brandenburg