Sollte es wirklich eine Suppe werden, fragte Jakobsson, und kratzte sich an die Stirn. Weil dies, auf diesem Teller, ehrlich gesagt, eher wie ein Steak aussieht, und ein Steak, solide und unnachgiebig wie es nun mal zu sein hat, keine Suppe ist. Holzbein meinte hingegen, dass dies zwar sicherlich keine Suppe sei, ebenso wenig aber ein Steak: das sind Nudeln, und die Soße sieht richtig kräftig aus. Am anderen Ende des Tisches erhob sich Munz und streckte seinen Zeigefinger aus: Tintenfisch, das ist Tintenfisch, das sieht doch selbst ein Blinder, schaut doch auf die Farbe, auf die Konsistenz. Munz’ Tischnachbarin, die Gruberova, schaute hin, kam aber auf ein völlig anderes Ergebnis: Omelettes mit Apfelmus, das man kann eindeutig riechen, da muss man nicht einmal hinschauen. Ihre Schwester, auch eine Gruberova, lachte auf und vertrat eine ganz andere Ansicht: Gemüseauflauf, das habe Jakobsson schliesslich auch bestellt, warum sollte dann von der Küche etwas anderes kommen, das habe doch überhaupt keinen Sinn. Die Diskussion wurde lebhafter und lauter, niemand der Beteiligten stellte in der Runde die eigene Meinung in Frage: Steak. Tintenfisch. Gemüseauflauf. Omelettes mit Apfelmus. Nein! Schwachsinn: Nudeln mit Soße.
Einer der Kellner wurde auf den Disput aufmerksam, näherte sich dem Tisch und mischte sich in das Gespräch ein: seid ihr blind? Das ist Weisskohlsalat mit Spiegeleier. Und, das sei hinzugefügt: miserabelst zugerichtet. Am Nebentisch speisten der Bankier Dubrowski und seine Frau mit einem Geschäftskunden. Sie stocherten in ihrem Essen, schwiegen bereits seit mehr als einer Viertel Stunde und freuten sich sehr, das Thema und den Gesprächspartner endlich zu wechseln. Aber meine Damen und Herren: das ist doch Fenchelsalat mit Orangenscheiben in Basilikumvinaigrette, das habe ich vor einigen Minuten selber gegessen, absolut köstlich. Felix, lass das doch, bremste ihn seine Frau: es ist eine einfache Pizza mit Artischocken und pikanter Salami, siehst du das nicht? Der Geschäftskunde des Bankiers, ergänzte hingegen: Erlauben Sie gnädig, aber das ist Unsinn: Sushi mit Apfel Zimt dressing, was sonst?
Der Meinungsaustausch schwappte von Tisch zu Tisch über, erreichte durch Mundpropaganda im Saal sämtliche Anwesenden. Die ersten Restaurantgäste standen auf und gingen neugierig zu dem Tisch, wo die Diskussion entbrannt war, und schauten auf Jakobssons Teller. Alle anderen folgten, nach und nach. Hirschbraten mit Preiselbeerkompott und gezupftes Sauerkraut. Apfelstrudel mit Schokoladensosse. Kürbissuppe und knackige Würste mit Koriander verfeinert. Cevabcici mit Pommes frites. Innerhalb von sieben Minuten brachten insgesamt 67 Personen (64 davon waren Gäste, drei, Angestellte des Restaurants – im Saal enthob sich niemand der Stimme) ihre Meinung zum Ausdruck, eine Meinung, die stets unterschiedlich fiel. Der Tisch um Jakobsson war umzingelt, alle Anwesenden verteidigten ihr eigenes Rezept, mancher von ihnen laut, andere sehr laut, einige vehement. Holzbein, sichtlich aufgebracht, konnte nicht verstehen und noch weniger akzeptieren, dass Dubrowski von Basilikumvinaigrette ausging; der Bankier war der Ansicht, dass Nudeln mit Tomatensosse das Albernste seien, was er im Leben je gehört hatte. Der Streit eskalierte, steckte und feuerte alle anderen an, es bildeten sich Streitpaare, manchmal auch kleine Gruppen. Die einzelne Diskussionen wurden schnell nervös und hektisch, die Stimmung, allgemein schlechter. Ein Kellner und sein Vorgesetzter, der Oberkellner, versuchten die Gemüter zu besänftigen. Beide erhoben ihre Hände, riefen die Gäste zu einem respektvollen Umgang miteinander auf, kamen mit Schieben und Zerren bis Jakobssons Platz und schauten auf den Teller. Ravioli mit Ricotta und Salbei, exzellent gekocht, al dente, sagte der Oberkellner; Mangohühnchen in Heidelberger Saft, erwiderte der Unterkellner kühl, hab ich doch selbst aus der Küche gebracht. Letzterer konnte den Satz nicht fertig aussprechen und wurde mitten im Gesicht von einem Faustschlag getroffen, den die Gruberova ihrer Schwester verpassen wollte. Es kam zu einem kleinen Tumult, einige fielen zu Boden, wiederholten aber unbeirrbar ihre Ansicht fort. Munz stieg erstmal auf seinem Stuhl, schliesslich auf dem Tisch. Von dort oben zeigte er wieder auf den Teller und deklarierte der versammelten Gemeinschaft: Tintenfisch, nichts als Tintenfisch! Alle protestierten, buhten sogar, die Frau des Bankiers nahm ein Rotweinglas in die Hand und schleuderte ihn gegen Munz und seiner Meeresfrucht. Das Objekt verfehlte sein Ziel, erreichte aber auf der anderen Seite des Tisches den Kopf eines brasilianischen Diplomaten, der von Weisser Spargel aus Antwerpen ausging, und der, instinktiv, unmittelbar darauf, seinem Nachbarn einen kräftigen Fusstritt gegen das Schienbein verpasste. Was die Bankiersfrau mit Munz nicht vermochte, schaffte Holzbein in wenigen Sekunden: er griff den nach wie vor auf dem Tisch Stehenden an die Unterschenkel, zerrte an ihn und liess ihn fallen, und zwar genau auf Jakobsson, der sich bei dieser Aktion das Schlüsselbein brach. Die Meute freute sich, die Unruhe wuchs, eine Massenschlägerei bahnte sich an. Einige ängstlichere Gäste nahmen Abstand von dem umrundeten und umkämpften Tisch, entfernten sich aus der Gefahrenzone. Dabei starrten sie auf den Boden, sprachen mit sich selbst und wiederholten überzeugt und in kurzen Zeiträumen das Rezept ihrer Wahl. Die meisten von ihnen lachten dabei sarkastisch und schüttelten den Kopf. Ein paar Meter weiter gelang in dem Stimmengewirr dem Linksintelektuellen Fuentes ein entscheidender Schlag: sein Kinnhaken sass tief und liess den Geschäftskunden des Bankiers bewusstlos zu Boden fallen. Die letztgenannten Beiden waren ironischer Weise die einzigen, die inhaltlich in ihren Meinungen nicht ganz so entfernt lagen, wie sonst alle anderen. Beide gingen nämlich von Sushi aus, beim dressing war aber der eine für Apfel Zimt, der andere für feingeraspelte Karotten mit Majonese gewesen. Fuentes vergewisserte sich noch mehrmals, ob sein Kontrahent wirklich nichts mehr zu sagen hatte, wandte sich daraufhin einer Frau zu, die viele Juwelen trug und Wirsingbrei mit Lammragout meinte. Das gibt es doch nicht! Will denn niemand hier verstehen, dass wir hier in einem japanischen Restaurant sitzen?!
Endlich kam der Koch aus der Küche in den Saal hinein. Kurzzeitig bewirkte sein Erscheinen etwas Ruhe und auch das Einstellen des einen oder anderen Streites. Die meisten blieben einige Sekunden still und richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Mann in weiss. Er war sehr dick, völlig verschwitzt, trug eine Haube auf dem Kopf und ein dreissig Zentimeter grosses Messer in seiner Hand. Die Schwester der Gruberova, mittlerweile völlig hysterisch, wie von Schlangen gebissen, schrie ihn an: sag doch allen das das Omelettes mit Apfelmus sind, und sonst gar nichts! Dies bewirkte eine Kettenreaktion, weil viele es der Verrückten nachmachten, nun selbst auf den Koch einredeten. Immer mehr Stimmen meldeten sich und ertönten ihre jeweils unterschiedliche Präferenz. Einzelne fingen an, den Koch offen zu bedrohen. Sie hatten Silbermesser in der Hand und machten böse Gesichter. Andere wandten sich ab, ohrfeigten ihren Nachbarn fort. Im Saal gab es sogar viele, die den Auftritt des Chefs gänzlich verpassten, teils, weil sie eifrig mit ihren persönlichen Gegnern beschäftigt waren, teils, weil sie bereits ko geschlagen wurden, und irgendwo bewusstlos lagen. Die Situation war zu diesem Zeitpunkt unübersichtlich, ausser Kontrolle. Die Leuten im Saal schrien, schlugen sich, würgten, zwickten und bissen, taten es weiter. Viele Köpfe waren rot, Adern und Venen traten am Hals hervor. Hier und da erschien Blut. Der Oberkellner, bereits am Boden, hauchte Ravioli mit Ricotta und Salbei, und erhielt von zwei Frauen, beide mit gerissener Bluse und barbusig, gleichzeitig, jeweils einen Fusstritt gegen seinen Hodensack. Ein russischer Ölbarone, der für Zander mit gegrillten Zucchiniblumen gewesen war, bezwang seinen Kollegen und brachte ihn zum Schweigen. Daraufhin sagte dieser nicht mehr Shrimpscocktail auf Bananenblätter.
Der Koch schnitt mit einer schnellen Bewegung seines Messers die Luft und erhob nochmal die Stimme: RUHE!, RUHE!, Was erlaubt ihr euch? MICH nicht zu befragen?! Und so ging er ans Werk.
Der Streit, was nun genau Jakobsson essen hätte können, endete auf tragische Weise: der Koch versuchte, auch mit Hilfe seines Messers, den Teller zu erreichen, auf welchem die Speise lag, die er für den Gast gekocht hatte, um dort persönlich, durch seine Autorität, ein für allemal, die Diskussion zu beenden. Sein Auftritt, vor allen Dingen sein Messer, verursachten aber eine Massenpanik, Leute liefen in vielen Richtungen davon, stossen sich, erzeugten ein Getümmel. Der Koch schritt vorwärts, stolperte beim ersten richtigen Hindernis unglücklich und fiel zu Boden.
Bei diesem Sturz rammte das dreissig Zentimeter lange Messer sein eigenes Herz.
Schade, weil er der einzige war, der hätte sagen können, was auf dem Teller wirklich war: Vanillepudding aus der Packung mit hausgemachter Roter Grütze.
Dazu, ein Pfefferminzblättchen.